Die Herausforderung besteht bei der Datensammlung, -analyse und -aufbereitung, denn die Ermittlung valider und belastbarer nicht finanzieller ESG-Kennzahlen erfordert eine Vielzahl verschiedener Quellen.

 

Retrograde-Analysen können den Aufwand zur Erstellung aussagekräftiger und transparenter Nachhaltigkeitsberichte drastisch reduzieren und somit Entlastung schaffen. Mit Greenwashing bleibt man schmutzig. „Tu Gutes und rede darüber“ – so der Titel des von Georg-Volkmar Zedtwitz-Arnim veröffentlichten Werkes – wird oftmals mit den von Unternehmen publizierten Nachhaltigkeitsberichten in Verbindung gebracht. Bedeutet das, dass nur über Gutes und besser nicht über Schlechtes geredet werden soll? Wann ist eigentlich „gut“ gut und wie soll überhaupt darüber geredet werden? Ist das, was für mich gut ist, auch gut für jemand anderen? Und mit wem rede ich eigentlich darüber?

Solche Fragen, fehlende Standards, unzureichende gesetzliche Vorgaben, veränderte Konsumentenbedürfnisse und Gruppenzwang liefern Erklärungsansätze, weswegen das Thema „Nachhaltigkeit“ mitunter recht schwammig angegangen wird und Unternehmen dazu verleitet – bewusst oder unbewusst – „Greenwashing“ zu betreiben. Nah am potemkinschen Dorf und fern von Belastbarkeit lässt sich aber vermuten, dass solche Nachhaltigkeitsberichte angezählt sind und Greenwashing keine Option mehr bleibt.

Die Europäische Kommission sieht ab dem Geschäftsjahr 2024 eine sukzessive Erweiterung der Unternehmenspflichten vor, um über den Umgang mit Nachhaltigkeit im Rahmen des Jahresabschlusses Bericht zu erstatten. Eine Vielzahl an Unternehmen wird erstmals von der Berichtspflicht betroffen sein. Diese Unternehmen werden nichtfinanzielle Kennzahlen ermitteln und veröffentlichen müssen, um Transparenz zu schaffen und damit auch Vergleichbarkeit mit anderen Unternehmen zu ermöglichen. Diese Nachhaltigkeitsinitiative per Gesetz soll dazu führen, dass auch der Nachhaltigkeitsbericht durch die Anwendung eines internationalen Standards nachhaltiger beziehungsweise sein Papier endlich wert wird. Zudem müssen die Berichtsinhalte dann – analog zum Jahresabschlussbericht – von externen Prüfern testiert werden.

Alle sprechen von Nachhaltigkeit – doch meinen alle auch wirklich dasselbe? Unstrittig ist die auch vom Duden vertretene terminologische Definition einer langfristig ausgerichteten Wirkung beziehungsweise des Grundsatzes, dass der Ressourcenverbrauch geringer sein muss als die jeweilige Regenerationsmöglichkeit. Corporate Social Responsibility (CSR) befasst sich mit der Verankerung von Nachhaltigkeit in Unternehmenshandlungen und -werten zur Sicherstellung der unternehmerischen Verantwortung für die Gesellschaft – wobei diese Bestrebungen eher ideologischer und qualitativer Natur sind. Zur tatsächlichen Analyse von Nachhaltigkeit eignet sich der ESG-Ansatz, denn dabei erfolgt die Betrachtung entlang der Dimensionen Environmental, Social und Governance, um nichtfinanzielle Kennzahlen unter Berücksichtigung von Standards quantitativ greifbar (im Sinne von messbar, steuerbar und vergleichbar) zu machen. Fehler im Umgang mit Nachhaltigkeit haben dann aber sehr wohl einen finanziellen Einfluss (in der Regel betrifft dies die Reputation des Unternehmens); auch erfordert die Behandlung im Risikomanagement unbedingt eine Quantifizierung von ESG-Risiken.

Zu Risiken und Nebenwirkungen

Die Datensammlung, -analyse und -aufbereitung ist herausfordernd, denn die ermittelten Werte müssen dann auch valide und belastbar sein, um der erforderlichen Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (im Sinne der Busi ness Judgment Rule nach § 93 AktG) gerecht zu werden (Stichwort: „angemessene Information“). Der Gesetzgeber sieht dafür die Beweislast beim Geschäftsleiter (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG): Würden einem Unternehmen beispielsweise – aufgrund eines positiven ESG-Ratings – bessere Zinskonditionen gewährt werden und stellte sich im Nachgang heraus, dass die Informationen zur Kennzahlenermittlung fehlerhaft (also „nichtangemessen“) waren, so können daraus persönliche Haftungsrisiken für den Geschäftsleiter resultieren. Schließlich lässt sich die „Chefsache“ auch hinsichtlich Compliance-Anforderungen manifestieren, denn die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verE- 3 Oktober 2022 langt ebenfalls, regulatorischen Verpflichtungen (zum Beispiel zum ESG-Reporting) nachzukommen.

Eine zentrale Herausforderung besteht folglich darin, für das ESG-Reporting relevante Daten zu identifizieren (oder gegebenenfalls auch erst systematisch zu erfassen) und zur Ermittlung von Kennzahlen aufzubereiten. Das „Aufbrechen von Silos“ ist dabei kein unbekanntes Problem (zumindest nicht in den Querschnittsdisziplinen Risikomanagement, Wissensmanagement, Marketing und so weiter).

Zur Erstellung von aussagekräftigen und transparenten Nachhaltigkeitsberichten können manuell erstellte Dokumente kaum belastbar unterstützen, denn neben der Handhabung einer Vielzahl unterschiedlicher Datenquellen sind zur Kennzahlenermittlung zum Beispiel auch geolokale oder zeitliche (Teil-)Aggregationen erforderlich: Wie viele Tonnen Abfall werden in Ihren Betrieben pro Jahr verursacht und wie setzt sich der Abfall zusammen? Wie viele Tonnen CO2 verbraucht Ihr Unternehmen durch Geschäftsreisen nach Fahrzeugart und Reiseland?

Obwohl zur praktischen Umsetzung beispielsweise auch Werkzeuge zur Berechnung von Emissionen bereitgestellt werden, ist ihr tatsächlicher Einsatz in der Praxis – aufgrund der regelmäßig durchzuführenden manuellen Verarbeitungsaktivitäten – subjektiv geprägt, aufwändig, langsam, fehleranfällig und damit riskant und teuer.

Um belastbare ESG-Kennzahlen (im Sinne von „angemessenen Informationen“) ermitteln zu können, bedarf es vielmehr der betriebswirtschaftlichen Analyse von relevanten Datenquellen. Das sind unter anderem logistische Prozesse in einem ERP-System. Letztlich setzt dies aber auch voraus, dass die zur Kennzahlenermittlung erforderlichen Daten im System vorhanden sind.

Nachhaltigkeitsbericht per Knopfdruck

Während Greenwashing-Ansätze einem „nachhaltig per Knopfdruck“ entsprechen, verlockt der charmante Gedanke dahingehend, auch tatsächlich belastbare Nachhaltigkeitsberichte (zumindest weitestgehend) per Knopfdruck erstellen zu können. Ein vielversprechender Ansatz liegt in der retrograden Analyse betriebswirtschaftlicher Anwendungssysteme mithilfe regelbasierter Prüfschritte. Damit können Nutzungsschwerpunkte und -defizite identifiziert werden, die sich in Stammdaten, Funktionen und Geschäftsprozessen wiederfinden. Unternehmen können sich diese Methode zur Nachhaltigkeitsberichterstattung zunutze machen, indem das ERP-System mit ESG-Daten angereichert und hinsichtlich definierter ESG-Anforderungen regelbasiert analysiert wird. Die Regeln orientieren sich dabei an anerkannten Standards (zum Beispiel die zukünftig verpflichtenden Regelungen der Europäischen Kommission; die Vorgaben des International Sustainability Standards Board (ISSB), Kennzahlen der Global Reporting Initiative (GRI) etc.) und zeigen auf Basis der Systemdaten auf, wie das Unternehmen hinsichtlich der jeweiligen Vorgaben aufgestellt ist. Zugleich wird durch eine solche Nutzungsanalyse transparent offengelegt, ob im System die zur Analyse erforderlichen Daten überhaupt gepflegt werden beziehungsweise welche Daten noch zu pflegen sind, um darauf aufbauend aussagekräftige Nachhaltigkeitskennzahlen zu ermitteln. Der Vorteil für Unternehmen liegt auf der Hand, denn anstelle von subjektiven Erhebungen werden aufgrund der höheren Datenqualität belastbare Fakten geschaffen, die valide Entscheidungen zulassen: Auf Basis der ermittelten aussagekräftigen ESG-Kennzahlen können dann Maßnahmen definiert werden, die zur Verbesserung der aktuellen Nachhaltigkeitssituation beitragen sollen. Durch die regelmäßige Wiederholung einer solchen Analyse lassen sich Veränderungen über die Zeit hinweg feststellen.

Denkbar ist, dass dieses Verfahren auch in der Wirtschaftsprüfung Einsatz findet, indem der Auditor eine retrograde Analyse zur Ermittlung von Nachhaltigkeitskennzahlen durchführt und diese mit den vom Unternehmen ermittelten Kennzahlen gegenüberstellt. Damit wird eine belastbare Testat-Grundlage entlang des jeweiligen Standards geschaffen, die den Wirtschaftsprüfer entlastet (auch im Sinne einer Aufwandsentlastung; es wird an die massive Erhöhung der Anzahl berichtspflichtiger Unternehmen erinnert). Zugleich wird durch den standardisierten Ablauf aber auch der Aufwand bei Unternehmen reduziert, der bei händischer Datenbeschaffung und manueller Aufbereitung zu bewerkstelligen wäre. So kann der von manchen empfundene EU-Regulierungswahn durchaus dazu beitragen, die Unternehmen dahin zu bewegen, nachhaltiger zu werden, denn ein Vorbeikommen an den Anforderungen wird vermutlich nicht nachhaltig möglich sein.

Dr. Markus-Alexander Kötzle
ist Risiko- und Compliance-Manager sowie Entwicklungsverantwortlicher für ESG-Analysen bei IBIS Prof. Thome.